Zu Beginn der Klientenzentrierten Diagnostik möchte
ich mich zunächst mit der Störungsentwicklung aus
Klientenzentrierter Sicht beschäftigen. Dabei möchte ich mich im
Wesentlichen an Jobst Finke
und seinem Inkongruenzmodell orientieren, der mir dies griffig und
nachvollziehbar darlegt. Finke bezieht sich in seinen Ausführungen
nur auf jene Störungen, bei denen Inkongruenzen eine pathogene Rolle
spielen bzw. inkongruenzbedingte Störungen Teilaspekte des
Gesamtstörungsbildes ausmachen.
Im wesentlichen beschreibt Finke
drei Glieder eines gesprächspsychotherapeutischen Störungsmodells,
die er aus Ausführungen von Rogers weiterentwickelte.
1.
Die Disposition, die er
als Inkongruenzkonstellation beschreibt, die meist durch frühe
Beziehungsstörungen erworben würde.
2.
Die Entstehung dieser
Inkongruenzkonstellation, die Finke als frühe Beziehungsstörung
zwischen dem Klienten und seinen Bezugspersonen sieht.
3.
Das als Ursache für das
Auftreten der Symptomatik und damit der Krankheit zu deklarierende
Lebensereignis aktueller Beziehungskonflikt, der die Inkongruenz in
einer Weise verschärft, dass ein intrapsychischer Konflikt entsteht.
Ad. 1 und 2.: Frau E. beschreibt Ablehnung, Gewalt
und das Gefühl ausgestoßen zu sein. Dies hat sie besonders von der
Mutter und der älteren Schwester erfahren. Die so fehlende
Geborgenheit, verbunden mit fehlenden Zärtlichkeiten bzw.
Unmöglichkeit des körperlichen Kontaktes durch die Hautkrankheit
möchte ich als Disposition und Genese im oben genannten Sinn
verstehen. Ad 3: Als Ursache für das Auftreten der Symptomatik würde
ich die ungemein belastenden und traumatisierenden Jahre der Ehe
beschreiben, in deren Zeit die depressive Symptomatik besonders und
entscheidend zum Ausbruch kam.
Zur Veranschaulichung dessen, wie Finke sein Modell
versteht, sei die unten angeführte Graphik
dargestellt:

Was ist nun aber überhaupt als Inkongruenz zu
verstehen? Hierbei handelt es sich um die Widersprüchlichkeit und
Unvereinbarkeit unterschiedlicher Tendenzen, die durch das
organismische Erleben und Erfahren einerseits und das
Selbstkonzept andererseits charakterisierbar sind.
„Die Inhalte dieser beiden Repräsentationssysteme
sind individuell unterschiedlich zu bestimmen. Häufig repräsentiert
die organismische Erfahrung die Tendenz nach Individuation und
Autonomie, das Selbstkonzept dagegen verinnerlichte Normen und
Rollenzuschreibungen. Die Fronten der Inkongruenz bestehen also in
dem ‚privaten’, individuellen Selbst einerseits und dem
öffentlichen, dem ‚Rollen-Selbst’ andererseits.“
Die Inkongruenz nunmehr beschränkt sich nicht auf ein intrapersonales Konfliktgeschehen, sondern ist auch mit
extrapersonalen Konflikten gekoppelt, die oft durch einen frühen
kindlichen Beziehungskonflikt entstanden sind und dann später durch
äußere Ereignisse immer wieder aktualisiert werden können.
·
Inkongruenz als
Selbstentfremdung und Störanfälligkeit
die zwei Grundelemente der Klientenzentrierten
Krankheitslehre sind die Beziehungsstörung (Störung der
Eltern-Kind-Beziehung) und die Inkongruenz. „Aufgrund mangelnder
Unbedingtheit der Wertschätzung, mangelnder Empathie und Kongruenz
der Eltern in der Beziehung zu ihrem Kind kommt es bei letzteren zu
einer Diskrepanz zentraler Persönlichkeitsbereiche.“
Die Defizite im Beziehungsangebot der Eltern führen
zu unvollständigen Symbolisierungen und damit zu unvollständiger
Integration unterschiedlicher Erfahrungen und Erlebnisse in das
Selbstkonzept. Inkongruenz entsteht: d.h. es manifestiert sich eine
Unvereinbarkeit zwischen Selbstkonzept bzw. Selbstbild auf der einen
und dem organismischen Erfahren und Erleben auf der anderen Seite.
Somit bleiben wesentliche Aspekte des Erlebens der
Gewahrwerdung verschlossen, um das Selbstkonzept nicht zu gefährden
bzw. aufrechtzuerhalten. Es kann soweit gehen, das die Inkongruenz
selbst nicht mehr bewusst erlebt und als „eine die Person
kennzeichnende Reaktionsbereitschaft bzw. Störanfälligkeit
habituell“
wird. Ein solche Person befindet sich im Status der Verschlossenheit
gegen sich selbst. Hebt sich diese Verschlossenheit teilweise auf,
entsteht ein Leidensdruck, was bedeutet, dass die Inkongruenz nicht
mehr vollständig verleugnet werden kann.
Ein aktuelles Lebensereignis beispielsweise ein
Beziehungskonflikt aktiviert das organismische Erleben so, dass die
Blockade der Wahrnehmung nicht mehr voll aufrechterhalten werden
kann. In dieser als Bedrohung erlebten Situation reagiert das
Individuum mit Angst und Desorganisation.
Das quasi verleugnete Konfliktgeschehen ist für das
Individuum ein quälender Zustand, der als Angst oder Depressivität
erlebt wird und durch das Auftreten von Symptomen nicht mehr absolut
verleugnet werden kann. Hierbei ist das Symptom als
Bewältigungsversuch der Konfliktspannung zu verstehen. Finke
unterscheidet hier Inkongruenz und Konflikt, um den Beginn der
Krankheit beim Einsetzen der quälenden Konfliktspannung deutlich zu
machen.
Als Folge ergibt sich für das Individuum eine
Stagnation der Selbstentfaltung und Einschränkung der personalen
Freiheit, da sich der einzelne in der angstvollen Abwehr der
ganzheitlichen Erfahrungen nicht mehr konstruktiv im Sinne von
Entwicklung auseinandersetzen kann. Ebenso kommt es zur Bildung
einer Beziehungsstörung nach außen.
Für Finke ist somit „psychisches Kranksein nicht
individual- sondern immer auch sozialpsychologisch zu verstehen.“
In Betrachtung von Frau E. ergibt sich, dass sie sich
von Kind an als unzulängliches Wesen erlebt: „Ich gehöre nicht
zur Familie, keiner will mit mir etwas zu tun haben, ich bin eine
Aussätzige, ich bin der letzte Dreck“. Die Klientin fühlt sich
in ihrem Selbstbild als gesamtes Wesen nicht liebenswert.
Das Selbstbild ist negativ besetzt und zwar ziemlich
stark. Im Therapieverlauf gibt es wenige Momente, in denen die
Klientin über sich in positiver Art und Weise spricht, schon gar
nicht im Kindheitserleben. Im Selbstideal der Klientin würde stehen:
„Du bist falsch, sei eine ganz andere; besser, liebenswerter,
stärker, intelligenter, geschickter, einfach anders, ein anderer
Mensch, vielleicht wie die Schwestern.“ Dies muss eine ungemeine
Irritation darstellen, denn, wenn ich annehmen muss, dass nichts an
mir stimmt, wie und wo soll innere Sicherheit, Selbstwert, ein
positives Selbstbild entstehen?
Bei Frau E. ist es für mich schwierig ein positives
Selbstkonzept der Kindheit zu entwerfen, da sie außer der
idealisierten Liebe des Vaters, keine positiven Erfahrungen
schildert.
Zugang bieten hier für mich eher die aktualisierten
kindlichen Erfahrungen, die durch äußere Lebensereignisse so
dramatisch zu beschreiben sind und sich in allen Beziehungen
widerspiegeln.
Die Klientin fühlt sich wertlos und überall falsch am
Platz und die Familie und der Exmann bekräftigen diese Erfahrungen
und verhindern selbst organismischen Erfahrungen zugänglich zu
werden bzw. versagen deren Beachtung bzw. Befriedigung: „Ich
sehne mich nach Wärme und Geborgenheit, aber als furchtbarer
Dummkopf und Heulsuse, die ich bin, werde ich dies niemals erlangen
und bin auch selbst schuld daran, solange ich so sein muss, wie ich
bin.“
So werden Erfahrungen des nicht Angenommenwerdens in
der Kindheit, durch die Ehe mit dem Exmann über Jahre hinaus
aktualisiert und führen immer wieder zum Ausbruch der depressiven
Symptomatik bzw. bilden, wie ich meine, einen Teil der
lebensgeschichtliche Genese der Inkongruenz.
·
Lebensgeschichtliche
Genese der Inkongruenz
Finke beschreibt wie nach der Auffassung Rogers
die Inkongruenz zwischen Selbstkonzept und ganzheitlicher Erfahrung
entsteht: Das Kind erlebt bestimmte Forderungen seiner Eltern (Ge-
u. Verbote) als unvereinbar mit den eigenen organismischen
Bedürfnissen. Will das Kind die Zuwendung der Eltern und das
Bestreben nach innerer Harmonie nicht gefährden, so wird es sich
mehr und mehr mit den Forderungen der Eltern identifizieren.
Die eigenen Bedürfnisse werden bei Eltern, die die
Bedürfnisse der Kinder wenig achten, dadurch immer mehr als Gefahr
für die notwendige elterlich Zuwendung erlebt. Idealtypisch möchte
ich die Negativzeichnung der drei in der Klientenzentrierten
Psychotherapie definierten therapeutischen Grundhaltungen
(Wertschätzung, Empathie und Kongruenz) anführen, die als pathogene,
elterliche Beziehungsangebote folgendermaßen aussehen würden:
1.
Mangelndes
Akzeptieren bzw. Distanzieren der Bezugspersonen
Das Gefühl von den Eltern nicht wirklich anerkannt zu
werden, führt zu einer tiefgreifenden Verunsicherung des
Selbstwerterlebens und einem Mangel an Urvertrauen, was die
Beziehung Eltern-Kind sehr erschwert. Eine solche Form der
Beziehungsstörung bezeichnet Finke als besonders schwerwiegend.
2.
Mangelnde
Empathie bzw. Vereinnahmung durch Bezugspersonen
Bei vorhandener Zuwendung der Eltern, aber wenig
Einfühlungsvermögen bezüglich des eigenen Wesens des Kindes und
seiner Aktualisierungstendenz, sind Eltern versucht ihre Kinder nach
dem eigenen Bild zu formen. Unter dem Motto: „Was mir entspricht,
entspricht auch dir“.
Jene Kinder bilden häufig ein sehr gruppenkonformes
Selbstideal, wobei jedes Abweichen von der Elternnorm, bzw.
Wahrnehmen abweichender Bedürfnisse als sehr schuldhaft erlebt und
nachhaltig unterdrückt wird.
3.
Mangelnde Kongruenz
bzw. Ambivalenz der Bezugspersonen
Hierbei gestalten die Eltern die Beziehungsaufnahme
sehr widersprüchlich, verwenden oft Kommunikationsformen im Stile
eines double-bind. Beim Kind entsteht durch die Widersprüchlichkeit
eine starke Unsicherheit in der Selbstbewertung bzw. eine Ambivalenz
zwischen Autonomie und Regressionstendenzen.
Die beiden ersten Punkte, mangelnde Akzeptanz und
mangelnde Empathie bezeichne ich als zutreffend für Frau E. Ich
glaube auch, dass sie ineinander greifen und ohne grundsätzliche
Akzeptanz sich kein empathisches Verstehen entwickeln kann. Die
Schwere und Hartnäckigkeit des depressiven Erlebens weisen
zusätzlich daraufhin. Dies klingt auch im Transkript des
Erstgespräches an und kommt im Therapiegeschehen immer wieder zur
Sprache.
·
Zusammenhang von
Inkongruenz, aktuellem Lebensereignis und Symptom
Wie bricht nun die eigentliche Krankheit aus? Hierbei
wird durch ein aktuelles Beziehungsproblem, bei dem es nicht mehr
zur Ausblendung der Inkongruenz kommen kann das Selbstkonzept
erschüttert: d.h. ein aktuelles Konflikterleben entsteht, - ebenso
Angst. Über das Symptom soll und kann die Bewältigung des Konfliktes
und damit das Nichtgewahrwerden der Inkongruenz erreicht werden.
Damit ist das Selbstkonzept auf einer anderen Ebene geschützt bzw.
hat sich stabilisiert.
Eine Diskrepanz wird lediglich mehr zwischen Symptom
und Selbstkonzept wahrgenommen, aber nicht mehr als das
Selbstkonzept infragestellende Beziehungsproblem.
Ich versuche diesen Zusammenhang an Hand der Ehe von
Frau E. zu erläutern: objektiv gesehen war die Ehe von Frau E.
furchtbar, lieblos, gewalttätig , kurz traumatisch. Frau E. hat
organismische Sehnsüchte nach Geborgenheit und Liebe.
Die Erfüllung dieser Sehnsüchte soll in der Ehe durch
den Mann eintreten, es gibt hier im Selbstkonzept ein
Beziehungsideal und die Verpflichtung: dies unbedingt und ohne
Unterlass in der ehelichen Beziehung zu suchen bzw. zu finden
ungeachtet dessen, dass es auch Grenzen von Erfüllbarkeit und
Leidensfähigkeit gibt. Frau E. deutet sogar den Eheeid um : „in
guten wie in bösen Tagen stehe ich Dir in Treue bei!“ Gelingt
die Beziehung nicht, fühlt sich die Klientin schuldig, nicht alles
zum Gelingen beigetragen zu haben.
Umgelegt auf den schlagenden Mann ist das aktuelle
Beziehungsproblem und dessen Konflikterleben leicht hergeleitet. Das
Selbstkonzept mit seinem Selbstideal wird gehörig erschüttert.
Eigentlich müsste die Klientin den Mann verlassen. Stattdessen fühlt
sie sich schuldig, eine schlechte Ehefrau zu sein, erlebt sich
wahnsinnig und fällt in die Depression, für die sie sich nocheinmal
schuldig fühlt, weil sie so schwach ist, den Anforderungen der Ehe
nicht standzuhalten. Das Symptom ermöglicht es ihr aber vom aktuelle
Beziehungskonflikt (Ehemann) und der Bedrohung des Selbstkonzepts
abgelenkt zu sein und lediglich die Diskrepanz zwischen Symptom
(Depression) und Selbstkonzept (Eigentlich sollte ich stärker sein,
bin schwach, schlechte Mutter, die nichts aushält...) wahrzunehmen.
Frau E. bezeichnet die Klinkaufenthalte als
Auszeiten, wo sie Energie auftankt, um dann die Beziehung mit dem
Exmann und die Kindererziehung wieder fortführen zu können.
Soweit zum Inkongruenzmodell nach Finke. Im
Wesentlichen versuchte ich im oben Beschriebenen den Begriff
Inkongruenz zu erläutern und auf die Klientin hin zu konkretisieren,
wie Finke ihn in Bezug auf die Entstehung psychischer Störungen
beschreibt.
Organismisches |
Selbstbild |
Selbstideal |
Ich sehne
mich nach Angenommenwerden, Halt und Geborgenheit. Ich möchte
erwünscht sein und im Leben empfangen werden.
|
Ich bin
unerwünscht und ungeliebt.
Ich bin nicht
liebenswert.
Ich bin
abstoßend.
Ich bin eine
Ausgestoßene.
Ich bin
einsam.
Ich bin
schwach u. hilflos.
Ich bin
Mutter.
Ich bin eine
schlechte Ehefrau.
Ich bin eine
Versagerin.
Ich bin
schuldig.
Ich bin
„verrückt“.
Ich bin
enttäuscht und verletzt.
Ich bin eine
vom Leben Gestrafte.
Ich bin
geduldig.
Ich bin
schuld an allem was nicht funktioniert, bzw. was passiert. |
Ich muss
nützlich sein.
Ich muss
allen helfen.
Ich muss für
andere dasein.
Ich muss
meine Ehe retten, sie darf niemals scheitern.
Ich muss
alles hinnehmen.
ich darf
nicht streiten.
Ich darf mich nicht auflehnen.
Ich muss eine
gute Ehefrau und Mutter sein.
Ich muss
immer stark sein. |
Inkongruenzen |
Ich
bin schwach.
|
Ich hab 5
Kinder alleine großgezogen und nebenbei eigene finanzielle
Existenz aufgebaut- ohne Unterstützung. |
Ich
will nichts vom Exmann wissen.
|
Ich muss
meine Ehe bzw. meinen Mann retten und den Kindern den Vater
erhalten. |
Ich
bin Mutter. |
Ich muss
Vater und Mutter sein. |
Ich
bin allein, lass keinen an
meinem Leid
teilnehmen und
schweige
darüber. |
Keiner
versteht mich, kann sich in mich einfühlen.
|
Ich
möchte mich einbringen,
beliebt und
stark sein. |
Es darf
keinen Konflikt geben, ich darf niemanden verletzten. |
|
|
|
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Ich möchte nun in einem weiteren Schritt von einer
eher allgemeinen hin zu einer störungsspezifischen Sicht der
Entwicklung der Depression von Frau E. kommen.
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